Aussöhnung mit den Eltern –
„Aus der Vergangenheit in die Gegenwart kommen“

Die Journalistin Cornelia Nack im Gespräch mit dem Paar- und Familientherapeuten Peter Bartning.
Ein Kapitel aus ihrem Buch „Zwischen Liebe, Wut und Pflichtgefühl“ – Frieden schließen mit den älter werdenden Eltern. Kösel- Verlag 2004.
Anmerkung: Praktische Schritte zur Aussöhnung mit den Eltern biete ich mitunter in meinen Seminaren an.

Cornelia Nack: Ist ein belastetes Verhältnis zu den Eltern eine Problematik, die sich bei Ihren Klienten häufig stellt?
Peter Bartning: Wenn jemand nachhaltig Probleme hat, sei es als Einzelperson oder in seiner Paarbeziehung, hat dies fast immer mit dem Elternhaus zu tun. Das Thema „Aussöhnung mit den Eltern“ oder „Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit“ stellt sich deshalb praktisch immer.

Wie bearbeiten Sie dieses Thema mit Ihren Klienten?
Bei dem Thema „Versöhnung mit den Eltern“ handelt es sich um zwei verschiedene Prozesse, die deutlich unterschieden werden müssen.
Einmal geht es um die Eltern, die jetzt existieren, die oft schon alt geworden sind. Hier kann sich für einen Klienten manchmal die Frage stellen, ob eine Versöhnung mit diesen realen Personen stattfinden soll oder nicht.
Zum anderen geht es um das Bild meiner Eltern aus Kindertagen, das ich noch immer in mir trage. Diese beiden Ebenen müssen deutlich voneinander unterschieden werden: meine realen Eltern heute und meine „inneren Eltern“, so wie ich sie damals als Kind erlebt habe. Um es mit einem Begriff aus der Transaktionsanalyse zu sagen: Wie wir unsere Eltern erlebt haben, ist in unserem „Eltern-Ich“ gespeichert. Dadurch ist es möglich, dass ich als Erwachsener in einer Problematik fest stecke, die auf meinen Kindheitserfahrungen mit den Eltern beruht. In dieser Problematik bin ich sozusagen ein Kind geblieben – ein unreifes Kind, vielleicht ein rebellisches Kind oder ein resigniertes Kind. Es kann sein, dass ich mit den heutigen Eltern ein gutes Verhältnis habe, aber in mir noch immer der alte Kampf oder Frustration oder Resignation lebendig ist.

Können Sie für diese Situation ein Beispiel nennen?
Wenn sich zum Beispiel die Eltern getrennt haben, kann jemand daraus „gelernt“ haben, dass man sich nicht auf Beziehungen verlassen kann. Die Folge können Partnerschaftsprobleme sein.
Ich versuche, bei meinen Klienten eine Sensibilität dafür zu erzeugen, dass das heutige Verhalten und Erleben nicht ein Zufall ist, sondern aufbaut auf dem, was wir früher erfahren haben. Denn: Wenn ein Kind in diese Welt hineingeboren wird, ist es hilf- und orientierungslos. Die Eltern sind dann für mich das, was jemand mal die „ersten Götter“ genannt hat. Ohne sie würde ich sterben. Und sie vermitteln mir grundlegende Eindrücke von dem, was Leben bedeutet: „Leben ist angenehm, wunderbar! Immer wenn es unangenehm wird, bekomme ich wieder etwas zu trinken, und alles fühlt sich wieder wunderbar an!“ – oder eben nicht, je nachdem.
Die wenigsten Menschen können sich vorstellen, wie fundamental diese Erfahrungen sind. Darauf baut unser Gefühlsleben, unser Verhalten und unsere Denkweise auf. Schichten unserer Psyche sind immer noch Kind, und die alten Szenen arbeiten im Hintergrund. Wenn da etwas schräg liegt, dann liegt mein Leben später auf diesen Gebieten auch zunächst einmal schräg.

Wie lässt sich die verlorene Balance wiederfinden?
Entscheidend ist die Aussöhnung dieses „inneren Kindes“ mit den „inneren Eltern“. Denn wenn ich zum Beispiel vor meinen „inneren Eltern“ Hemmungen habe, Klartext zu reden, werde ich das auch nicht vor den realen Eltern oder vor Vorgesetzten oder dem Partner wagen, weil ich mich immer noch in der alten kindlichen Rolle fühle. Wenn diese Aussöhnung mit den „inneren Eltern“ geschehen ist, braucht die äußere Aussöhnung mit den realen Eltern für mich unter Umständen gar nicht mehr statt zu finden. Das ist noch ein weiterer Punkt, ein zusätzlicher vielleicht, der aber womöglich nicht zu realisieren ist, denn die Eltern müssen ja auch bereit sein, dabei mitzumachen.

Also nicht den großen Sack aufmachen und den realen Eltern alles vor die Füße schütten, was sie einem angetan haben?
Klienten fürchten manchmal, sie müssten jetzt so etwas tun. Damit begeben sie sich aber in die Gefahr, die Aufgabe der Versöhnung an die heutigen Eltern zu delegieren. Man erwartet, dass sie die eigene innere Arbeit leisten. Aber es geht ja gar nicht um die heutigen Eltern. Das Wichtigste, die Versöhnung mit den „inneren Eltern“, ist eine Arbeit, die ich nur alleine machen kann. Wut und Ärger über die Eltern zu spüren, kann ein wichtiges Durchgangsstadium sein, denn diese Gefühle liefern Energie und mobilisieren mein inneres System. Aber andere Schritte müssen folgen. Wut allein zeigt keine Lösungen auf: Was habe ich gewonnen, wenn ich den Eltern sage: „Ihr seid schuld!“? Damit bin ich selber noch nicht frei geworden.

Können Sie einmal schildern, wie diese innere Aussöhnung in der Praxis aussieht?
Es kommt darauf an, dass ich in Dialog komme mit meinem Elternbild, und dafür bietet sich das Rollenspiel an, wie es die Gestalttherapie oder die Transaktionsanalyse anwenden.
Die Transaktionsanalyse basiert auf der Beobachtung, dass wir als erwachsene Menschen in einer Situation empfinden können wie damals, als wir ein kleines Kind waren; wir werden zum Beispiel ganz mutlos und verlieren alle Hoffnung. In einer anderen Situation verhalten wir uns genau so, wie unser Vater es immer gemacht hat: „So, basta, keine Widerrede!“ Hier werden Erfahrungen wirksam, die wir früher gemacht haben, die in unserem Gehirn gespeichert sind und auf die wir, oft ohne es zu wissen, zurückgreifen.
In der Transaktionsanalyse werden drei Bereiche der Psyche unterschieden: das Eltern-Ich enthält das Denken, Fühlen und Verhalten, wie wir es von Autoritätspersonen erlebt haben. Das Kind-Ich enthält Denken, Fühlen und Verhalten von uns selbst als wir Kind waren. Dazwischen ist das Erwachsenen-Ich der Gegenwart, das Situations- angemessen fühlt und handelt, ohne Rückgriff auf eine gespeicherte Erinnerung.

Und diese drei Bereiche treten nun in einem Rollenspiel in Aktion?
Das Rollenspiels hilft mir, Denken, Fühlen und Verhalten dieser drei Teile wahrzunehmen und mich mit ihnen auseinander zu setzen. Ich nehme einfach drei Stühle, die diese drei Teile meiner Psyche darstellen. Ich setze mich zum Beispiel auf den Kind-Ich-Stuhl und erzähle meinem Eltern-Ich: Was ihr damals mit mir gemacht habt, war so furchtbar für mich, und ich habe gar nicht gewagt, etwas zu sagen und so weiter. Das Interessante ist, wenn ich mich da hinein vertiefe, komme ich wieder in diese Gefühle hinein, bin fast in dieser Situation wieder drin.

So lebendig wird das dann?
Mit therapeutischer Anleitung und einiger Übung kann das so lebendig werden, denn mein Kind-Ich enthält die Erinnerungen meiner Kindheit, und dieser Teil reagiert genau so, wie ein lebendiges Kind reagieren würde. Aus der Position des Erwachsenen-Ich kann ich dem Kind jetzt laut warme, liebe Worte sagen. Und der kindliche Teil meiner Psyche wird darauf positiv reagieren. Ich kann ihm auf diese Weise helfen, sich sicher und geborgen zu fühlen, sich gegen das Eltern-Ich abzugrenzen, sich von ihm loszulösen und vieles andere mehr.

Kommt es einem nicht komisch oder sogar albern vor, sich selbst laut Trost zuzusprechen?
Es wird den meisten am Anfang albern vorkommen, aber wenn man es genau nimmt, geschieht im Reden mit sich selbst etwas ganz Alltägliches, denn jeder kennt diese inneren Dialoge: „Also, eigentlich würde ich dieses und jenes gerne tun, aber andererseits geht es doch nicht ...“ Man muss dieses Rollenspiel praktizieren, um zu erfahren, dass es wirkt. Wenn man sich etwa vorstellt, sich selbst als Säugling im Arm zu haben, kann man beide Rollen spüren: was man als liebevolle Mutter einem Kind geben kann und wie man als Säugling gehalten wird. Da passiert wirklich etwas.

Und auf diese Weise kommt es zur inneren Aussöhnung?
Aussöhnung bedeutet, dass diese drei Teile in einen immer hilfreicheren Dialog kommen. Eine hilfreiche Veränderung wäre zum Beispiel, dass das Eltern-Ich mir nicht mehr einflüstert: „Das kannst du ja doch nicht“ oder „Du bist nichts wert“, sondern sich an die sich selbst gesagten Sätze erinnert, etwa „Du bist wertvoll!“.
Zwar können wir unsere Erinnerungen nicht ausschalten, sie sind unauslöschlich in unserem Gehirn gespeichert. Aber ich habe die Chance, eine positive Stimme dagegen zu setzen, wenn ich im Rollenspiel das „nährende Eltern-Ich“, wie die Transaktions-Analytiker es nennen, liebevoll zum inneren Kind sprechen lasse. Denn auch dies ist ja eine Erfahrung, die dann in unserem Gehirn abgespeichert wird. Im Laufe der Zeit lernt meine Psyche dann, auf diese positiven Eindrücke, die ich mir selbst gegeben habe, umzuschalten.

Ich kultiviere also auf diese Weise ein unterstützendes „Erwachsenen-Ich“, das mir in Momenten der Mutlosigkeit Stärke geben kann?
Genau. Der erste Schritt besteht darin, die Gefühle von damals wieder zu erleben, sie ernst zu nehmen und zu würdigen, indem ich meinem „inneren Kind“ sage: Was du da erlebt hast, ist wirklich schlimm für dich gewesen.
Der zweite Schritt besteht darin, ihm deutlich zu machen: Das alles ist Vergangenheit. Heute sind wir erwachsen, sind unabhängig, es gibt Menschen, die mich lieben, und wir können auf unsere eigenen Stärken bauen.

Ich kann meinem „inneren Kind“ die Anerkennung geben, die es sich damals so sehr von den Eltern gewünscht hat und dafür sorgen, dass das „innere Kind“ sich von dieser Fixierung auf die Eltern löst. Diesen Prozess kann ich im Rollenspiel abschließen, indem ich vielleicht den Eltern einen rituellen Satz sage wie: „Ihr habt das und das gemacht, ich habe das und das daraus gelernt, jetzt gehe ich meinen Weg und lasse euch euren Weg gehen“.

Der letzte Schritt ist, dass ich den Eltern vergebe und sie damit wirklich gehen lasse. Denn alles, was ich nachtrage, halte ich noch fest, behalte es als eine Art Schuldschein. Vergeben heißt, ich zerreiße den Schuldschein. Die Eltern waren so, ich kann es erklären oder nicht, ich lehne das ab oder auch nicht, und ich lasse sie los.

Eine konkrete, wortwörtliche Aussöhnung mit den realen Eltern muss also gar nicht sein, um mein Verhältnis zu ihnen zu verbessern?
Wenn die Aussöhnung mit den „inneren Eltern“ erfolgt ist, kann ich auch den realen Eltern anders begegnen, weil ich nicht mehr sagen muss: „Jetzt habt mich doch lieb!“ Solange ich noch will, dass die Eltern etwas für mich tun, will ich sie ja noch verändern und halte an ihnen fest. Die Eltern so zu lassen, wie sie sind, ist auch ein Respektsbeweis. Und durch meine inneren Veränderungen wird auch die reale Beziehung zu ihnen oft wie von selbst besser.

Kann ich die innere Aussöhnung auch alleine erreichen oder brauche ich immer therapeutische Unterstützung?
Es ist durchaus möglich, mit dem „inneren Kind“ alleine zu arbeiten, etwa indem ich als Erwachsener dem „inneren Kind“ einen Brief schreibe oder mein „inneres Kind“ sich in dieser schriftlichen Form an die „inneren Eltern“ richtet. Weil aber bei dieser Aussöhnungs-Arbeit viele starke Gefühle im Spiel sein können, ist es oft hilfreich, diesen Weg mit einem Therapeuten zusammen zu gehen.
Eine innere Aussöhnung kann auch dadurch geschehen, dass die realen Eltern offen sind für ein Gespräch. Ich mache dann eine positive Erfahrung mit den realen Eltern, sie können sehen, welche Not ich hatte, und ich erlebe eine Versöhnung in der heutigen Zeit. Diese positive Erfahrung kann auch dazu führen, dass ich mich mit den „inneren Eltern“ versöhne, ganz ohne Therapie.

Wie soll ich mich den realen Eltern gegenüber verhalten, wenn sie bei ihrem alten Verhalten bleiben, zum Beispiel ihre unrealistischen Erwartungen und Ansprüche aufrecht erhalten oder mir weiter ständig Vorwürfe machen?
Niemand sollte sich mit den „inneren Eltern“ versöhnen wollen, damit die realen Eltern endlich lieb und nett werden. Das wäre genauso ein Kontrollieren und Manipulieren und Unfreiheit. Ein Klient geht erst mal seinen Weg für sich selbst allein. Das wird bei anderen vielleicht gar nichts bewirken. Versöhnung muss nicht immer heißen: Friede, Freude, Eierkuchen. Versöhnung bedeutet, dass ich eine erwachsene Stellung gegenüber meinen Erfahrungen beziehen kann und keine reaktive wie ein Kind.
Die Eltern haben ein Recht darauf, so zu leben und zu sein, wie sie immer waren. Das ist ihr gutes Recht.

Ich sollte also überhaupt nicht erwarten, dass sie sich ändern?
Wenn sie sich ändern, ist das ein Geschenk, eine Gnade, genauso wie jede gute Beziehung ein Geschenk ist. Aber das kann ich nicht erzwingen, sonst bin ich sofort wieder in der Position des Kontrollierenden. Es sollte immer darum gehen, dass ich eine andere Haltung einnehme, dass ich erwachsen werde, auch den Eltern gegenüber. Dass ich sie loslassen und sie ihren Weg gehen lassen kann.
Es gibt auch den Fall, dass ein erster Schritt zur Aussöhnung von den realen Eltern unternommen wird, aber das erwachsene Kind dieses Angebot nicht annehmen kann, weil unbearbeitete Ereignisse aus der Vergangenheit einer neuen Nähe im Wege stehen.
In so einem Fall waren die Beteiligten oft über Jahrzehnte gewohnt, einen bestimmten Grad der Nähe oder des Abstandes zu haben. Wird dieses Gleichgewicht verändert, kann sich der andere bedrängt fühlen. Wenn das erwachsene Kind Angst hat vor größerer Nähe, bedeutet es meist, dass es innerlich nicht in der Gegenwart ist. In der Gegenwart will der reale Vater oder die reale Mutter mehr Nähe, warum sollte ich als Kind das nicht auch haben wollen? Weil mein Gefühl nicht in Kontakt ist mit meiner heutigen realen Mutter, sondern mit meinen früheren Erfahrungen und meiner „inneren Mutter“ – und schon bin ich aus der Gegenwart verschwunden und lebe in meinem Vergangenheitsfilm. In der Transaktionsanalyse würde es heißen: Ich bin im Kind-Ich und nicht im Erwachsenen-Ich.
Damit ich meine Eltern so sehen kann, wie sie in der Gegenwart sind, muss ich aus meiner Vergangenheit herausgekommen sein. In der Gegenwart leben mit Offenheit und Achtsamkeit, sodass ich wirklich die angebotene Nähe prüfen kann – das geht nur aus einer inneren Stärke heraus. Es wäre schön, wenn wir uns so offen begegnen könnten – frei von "flashbacks" in die eigene Vergangenheit. Denn wirklich glücklich sein kann man nur in der Gegenwart.

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